Hildegard Mittenzwei (*1924) ist Kreuzbergerin seit kleinauf. Heute lebt sie wieder in dem gleichen Haus in der Nostitzstraße, in dem sie auch ihre ersten Schritte tat, unterbrochen nur von einem gut 50jährigen Zwischenstopp in der benachbarten Fidicinstraße. Sie berichtet von den Straßenszenen im Kreuzberg der 30er Jahre, von den Spaziergängen mit ihrem Vater, den "Sternen" auf den Türen des Hauses und vom Glück das der Bergmannkiez so gut wie keine Bomben während des Krieges abbekam.
"Ich glaube es war von "Leiser", da gingen solche Stelzenmänner als Reklame durch die Bergmannstraße. Und hier unten auf der Ecke Nostitz, da stand ein Obstwagen. Der Mann hat seinen Wagen immer aus der Remise geholt. Und da musste er ja ein Pferd vorspannen. Und wenn er das Pferd geholt hat, bin ich mit ihm mit in die Zossener und habe dann auf dem Pferd gesessen. Das ging so bis ich zur Schule ging."
"Das ganze Haus war voller Juden, wo die gewohnt hat. An jeder Wohnungstür war ein Stern. Und da haben wir dann abends im Hinterzimmer gesessen und haben Karten gespielt, Rommé oder so. Ich war mit ihr befreundet bis zu ihrem Tode. Das muss so 1980 gewesen sein, die war Jahrgang 1900. Ich habe mit in diesem Kreisen verkehrt, da waren ja viele jüdische Frauen, die deutsche Männer hatten."
"Gute Freunde, die sind alle tot inzwischen. Alle sind sie 90 geworden, hintereinander drei Frauen. Keiner mehr da. Schulfreundinnen sogar. Mit 14 sind wir rausgekommen, mit 90 sind die gestorben. Da kann man sich ausrechnen, wie lange man befreundet war. Nicht täglich, aber immer mal. Kein Streit, kein Zank, keine Besserwisserei. Aber sonst ist keiner mehr. Alles, alles weg!"
"Da ist die Fensterbank in der Kellerwohnung der Mulackstraße, ein Mietshaus, unendlich hoch für den Dreijährigen, der Jitzchak heißt, auch Sally, und am 19.Januar 1924 geboren wird." So beginnt Walter Kaufmann (*1924) seinen "Versuch, über meine Mutter nachzudenken". Als Dreijähriger wird Kaufmann adoptiert und wächst fortan in Duisburg als Sohn eines jüdischen Rechtsanwaltes auf. Walter Kaufmann berichtet von seinem liebevollen Elternhaus, von Rassenkunde in der Schule, der Zerstörung der elterlichen Wohnung während der Pogrome 1938 durch die SS und schließlich von Flucht und Exil in Australien, dem Tod seiner Eltern, warum er nach dem Krieg nach Berlin zurückkehrte und von der Suche nach Spuren seiner leiblichen Mutter.
"Ich bin nach Hause gekommen und habe erlebt, dass mein Vater von der Gestapo verhaftet wurde und kurze Zeit später, wie unser Haus von der SS gestürmt wurde und alles zertrümmert wurde, was in dem Haus nicht Niet-und Nagelfest war. Meine Mutter und ich saßen im Keller, wurden von der SS in den Keller gejagt, während über uns die Möbel zertrümmert wurden."
"Ich bin mit 16 auf ein Gefangenenschiff geraten. Ich bin interniert worden in England - ganz irrsinniger Weise - mit 2500 anderen, auf einem Schiff, auf dem 500 Leute Platz hatten und wir mit 2500 Menschen 2 Monate lang auf langer Fahrt nach Australien waren. Zusammengepfercht wie Stückgut. Haben wir alles überlebt, habe ich überlegt, haben alle überlebt. Wir haben Glück gehabt, dass wir nicht torpedot wurden."
"Ich kann sagen, ich fühle mich nicht als Verfolgter, ich fühle mich nicht als Opfer, ich fühle mich als sehr beglückt durch die Umstände im Leben. Beglückt in dem Sinne, dass ich immer mit dem Leben davon gekommen bin. Nicht nur im Krieg, sondern auch danach. (...) Ich habe immer Glück gehabt."